Interview zu Artikel im Journal of Aging & Social Policy | 17.12.2019„Gute Gesundheit und stabile Finanzen sind die Basis für aktives Altern“
Das Phänomen des „aktiven Alterns“ beinhaltet nicht nur bezahlte Tätigkeiten, sondern auch ehrenamtliches, unbezahltes Arbeiten. BiB-Wissenschaftler Frank Micheel hat sich auf Basis der BiB-Studie „Transitions and Old Age Potential: Übergänge und Alternspotenziale (TOP)“ mit der Frage befasst, ob ältere Beschäftigte beabsichtigen, im Ruhestand weiterhin aktiv zu bleiben und unter welchen Bedingungen. Sein besonderes Augenmerk galt dabei dem unentgeltlichen Engagement und den individuellen Voraussetzungen dafür. Im Interview äußert er sich zu wichtigen Ergebnissen seiner neuen Publikation.
BiB-Wissenschaftler Frank Micheel
Quelle: BiB
Herr Micheel, wie hoch ist der Anteil der Befragten in Ihrer Studie, die im Ruhestand weiterhin einer bezahlten oder unbezahlten Tätigkeit nachgehen möchten?
Insgesamt zeigen die Daten, dass die grundsätzliche Bereitschaft, im Ruhestand weiterhin aktiv zu bleiben, erfreulich hoch ist. Lediglich jede neunte Person in der Analysestichprobe gibt an, weder einer bezahlten noch einer unbezahlten Tätigkeit im Ruhestand nachzugehen. Mit knapp 43 Prozent ist dabei der Anteil derjenigen erstaunlich hoch, die es sich vorstellen können, sowohl einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen als auch sich unentgeltlich nützlich zu machen.
Gibt es anteilsmäßig Unterschiede bei der Bereitschaft für bezahlte Tätigkeiten oder unentgeltliches Engagement?
In der Tat ist eine deutliche Präferenz von unentgeltlichen gegenüber bezahlten Tätigkeiten zu beobachten. Knapp 4 von 10 Personen möchten sich im Ruhestand unentgeltlich engagieren. Im Hinblick auf die bezahlten Tätigkeiten zieht dies ungefähr jede dreizehnte Person in Erwägung.
Welche Rolle spielt die finanzielle Selbsteinschätzung für den Ruhestand im Hinblick auf die Absicht, unentgeltlichen Tätigkeiten oder einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachzugehen?
Die Wahrnehmung der finanziellen Lage übt bei diesen Entscheidungsprozessen einen wesentlichen Einfluss aus. Aus den Daten lässt sich ablesen, dass Personen, die ihre finanzielle Lage im Ruhestand als günstig einschätzen, eine recht hohe Bereitschaft zeigen, sich im Ruhestand unentgeltlich zu betätigen. Dieser Befund steht in Einklang mit anderen Untersuchungen, die zeigen, dass eine gesicherte ökonomische Basis ein unentgeltliches Engagement, zum Beispiel im Freiwilligenbereich, begünstigt.
Wie wirken sich der formale Bildungsgrad und die Gesundheit auf die Bereitschaft für ein unentgeltliches Engagement im Ruhestand aus?
Bildung und eine gute Gesundheit sind die beiden zentralen Wegbereiter für ein unentgeltliches Engagement, zum Beispiel in Form von ehrenamtlichen Aktivitäten. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in dieser Untersuchung wider. Zum Beispiel können es sich 47 Prozent der Hochgebildeten vorstellen, im Ruhestand einer bezahlten und einer unentgeltlichen Tätigkeit nachzugehen. Unter den Befragten mit mittleren beziehungsweise niedrigen Bildungsabschlüssen liegt der Anteil bei 39 Prozent.
Ein ähnliches Muster lässt sich für den Gesundheitszustand erkennen: 47 Prozent der Befragten, die einen sehr guten beziehungsweise guten Gesundheitszustand angeben, sind deutlich häufiger geneigt, bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten nachzugehen als Befragte mit einem schlechten oder eher schlechten Gesundheitszustand. Deren Anteil liegt mit 39 Prozent etwas niedriger. Man kann aus diesen Beobachtungen den Schluss ziehen, dass es Menschen in einer privilegierten Position relativ einfach haben, eine Neigung für ein aktives Altern im Ruhestand zu äußern.
Was bedeuten Ihre Befunde für die aktuelle Debatte zum aktiven Altern in Deutschland?
Aktuell zeichnet sich für Deutschland ein Bild von einem ökonomisch getriebenen Diskurs über das aktive Altern ab. Nicht selten wird ein aktives Älterwerden mit einem „erfolgreichen“ oder einem „produktiven“ Altern gleichgesetzt. Bei solchen Entwicklungen besteht schnell die Gefahr, dass die nichtaktiven Personen, die diesen Vorstellungen nicht entsprechen, als „nicht erfolgreich“ oder „unproduktiv“ stigmatisiert werden. Dies greift zu kurz, wenn beispielsweise gar nicht hinterfragt wird, ob es Menschen gibt, die aktuell nicht aktiv sind, es aber durchaus möchten.
Zudem wird in diesem Diskurs der Schwerpunkt auf bezahlte Tätigkeiten gelegt. Intuitiv ist dieser Schritt nachvollziehbar, da es sich um Aktivitäten handelt, die auf direkt messbare Weise zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt oder dem Wirtschaftswachstum beitragen. Unbezahlte, aber gesellschaftlich genauso wichtige Aktivitäten wie familienbezogenes oder ehrenamtliches Engagement werden in diesen Debatten als nachrangig behandelt. Die vorliegende Untersuchung soll auf zwei Aspekte aufmerksam machen: Zum einen, dass individuelle, freiwillige Entscheidungen ein wesentlicher Baustein im Konzept des aktiven Älterwerdens sind. Zum Zweiten, dass im Kontext des aktiven Alterns entgeltliche und unentgeltliche Tätigkeiten als gleichwertig zu untersuchen sind.
Lassen sich aus den Ergebnissen Handlungsempfehlungen an die Politik ableiten?
Aktives Älterwerden ist sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft grundsätzlich etwas Gutes und sollte auch von der Politik gefördert werden. Die Herausforderung besteht darin, die soziale Heterogenität in der Lebensphase Alter, differenziert nach Bildung, Gesundheit und Einkommen, entsprechend zu berücksichtigen. Dazu benötigt es politisches Fingerspitzengefühl. Einerseits möchte man Strukturen für ein aktives Älterwerden etablieren beziehungsweise vorhandene Barrieren abbauen. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, einen normativen Druck zum Aktivsein aufzubauen. Wer im Alter nicht aktiv ist, kommt bei dieser ökonomisch geprägten Vorstellung von einer aktiven Gesellschaft im Alter schnell in Rechtfertigungszwang, wenn er oder sie den Ruhestand nach einem langen Erwerbsleben einfach nur genießen möchte. Besonders schwerwiegend greift dieser Aspekt bei Menschen mit niedriger Bildung oder einem schlechten Gesundheitszustand. Dies gilt es zu vermeiden.
Die Fragen stellte die Internetredaktion des BiB.
Artikel: Micheel, Frank (2019): The Intention to Paid and/or Unpaid Activities in Retirement. A Study of Older Workers in Germany. Journal of Aging & Social Policy 1–19