European Sociological Association 2021 • 10.09.2021Aktuelle Befunde des BiB bei der ESA-Konferenz
Bei der 15. ESA-Konferenz vom 31.08. bis 03.09.2021 führte das Institut unter anderem eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Soziologie räumlicher Mobilität“ durch. Zudem wurden Befunde aus verschiedenen Projekten vorgestellt. Im Rahmen der online durchgeführten Veranstaltungsreihe (research stream), die durch den BiB-Wissenschaftler PD Dr. Heiko Rüger, Prof. Dr. Knut Petzold (University of Applied Sciences, Zittau/Görlitz) und Dr. Gil Viry (University of Edinburgh) organisiert wurde, fanden acht Sessions mit insgesamt 29 Vorträgen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 10 Ländern statt.
Der Zusammenhang zwischen Pendelbereitschaft und -verhalten
Den thematischen Schwerpunkt der Vorträge bildeten soziologische Befunde rund um das Thema räumliche Mobilität. So untersuchten PD Dr. Heiko Rüger, Dr. Nico Stawarz und Dr. Thomas Skora vom BiB sowie Prof. Dr. Brenton M. Wiernik (University of South Florida) den Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zum Fernpendeln und dem tatsächlichen Pendelverhalten unter Verwendung europäischer Längsschnittdaten. Bisherige Studien deuten auf eine positive Beziehung zwischen Pendelbereitschaft und -verhalten hin. Allerdings betonte Dr. Rüger, dass der Forschungsstand bisher keineswegs als zufriedenstellend angesehen werden kann und Längsschnittstudien fehlen. Untersucht wurde daher die Frage, in welchem Verhältnis die Bereitschaft zum Fernpendeln und das tatsächliche Verhalten stehen. Steigt mit einer höheren Pendelbereitschaft die Wahrscheinlichkeit für den Einstieg in das Fernpendeln oder führt aktives Fernpendeln zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Veränderungen bei der Bereitschaft?
Die vorgestellten Befunde auf der Basis des Surveys „Job Mobilities and Family Lives in Europe” verdeutlichen, dass die Pendelbereitschaft nicht als stabiles Charaktermerkmal einer Person angesehen werden kann, sondern Veränderungen unterworfen ist, die in engem Zusammenhang mit dem aktuellen Pendelverhalten stehen. „Die Bereitschaft zum Pendeln kann aber auch als Präferenz für Pendelverhalten verstanden werden”, betonte Dr. Rüger. Allerdings liefern die vorgestellten Befunde keine Anhaltspunkte für die Prognose künftigen Pendelverhaltens.
Mobilitätsalternativen und Entscheidungsprozesse
Mit welchen Mobilitätsformen kann die Pendelsituation am besten bewältigt werden und was beeinflusst den Entscheidungsprozess? Damit beschäftigten sich Dr. Thomas Skora, PD Dr. Heiko Rüger und Prof. Dr. Knut Petzold.
Bisher haben nur wenige Studien die verschiedenen Mobilitätsalternativen im Vergleich und in ihrer Interdependenz empirisch untersucht. Zudem wird nur selten zwischen Tages- und Wochenendpendeln (dass heißt Übernachtung am Zweitwohnsitz in der Nähe des Arbeitsplatzes während der Arbeitswoche) unterschieden. Ziel der Studie ist es daher, die Mobilitätsentscheidungen von Personen mit einer langen Pendelstrecke am Beispiel der Mobilitätsformen Migration, Tages- und Wochenendpendeln zu analysieren und sich auf das Zusammenspiel von Migrations- und Pendelkosten zu konzentrieren. Mithilfe der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) wird deutlich, dass vor allem das Wochenendpendeln eine präferierte Alternative ist, wenn sowohl die Migrations- als auch die täglichen Pendelkosten sehr hoch sind. „Wochenendpendeln erweist sich aber als nicht praktikabel für Eltern von Kindern im Schulalter“, hob Dr. Skora hervor. In dieser Situation tendieren die Eltern dazu, täglich zu pendeln, selbst wenn die Entfernung sehr groß ist. „Zu vermuten ist, dass die Kosten für die Abwesenheit von der Familie unter der Woche als sehr hoch angesehen werden“, so der Soziologe.
Wirken sich berufsbedingte Umzüge auf Gesundheit und Lebensqualität aus?
Berufsbedingte Umzüge können Gesundheit und Lebensqualität in positiver Hinsicht beeinflussen, etwa durch die Verringerung von Pendeldistanzen, einen Anstieg der Arbeitsplatzzufriedenheit und durch die Zeit für Freizeitaktivitäten. Trotz dieser Vorteile können etwa Faktoren wie Einsamkeit, fehlende soziale Kontakte, Wegzug von Familie sowie Freunden und Freundinnen oder Beziehungsprobleme die Lebensqualität negativ beeinflussen. Forschungsbefunde zu den Folgen berufsbedingter Umzüge für die Gesundheit präsentierten Dr. Nico Stawarz, Prof. Dr. Oliver Arránz Becker (Martin‐Luther‐Universität Halle‐Wittenberg) und PD Dr. Heiko Rüger.
Ihre Ergebnisse auf der Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) verdeutlichen, dass sich berufsbedingte Umzüge unterschiedlich auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirken. „Unsere Befunde verdeutlichen eine kurzzeitige Verbesserung des körperlichen Gesundheitszustands im Zeitraum bis zu 4 Jahren nach dem Umzug, während die psychische Gesundheit tendenziell vor dem Umzug abnimmt und danach ansteigt“, erklärte Dr. Stawarz. „Zudem offenbaren die Analysen einen deutlichen Einfluss des Bildungsniveaus auf den Zusammenhang von berufsbedingten Umzügen und der körperlichen sowie der psychischen Gesundheit“, sagte der Soziologe. So kam es in erster Linie bei den Hochgebildeten zu einer Verbesserung des Gesundheitszustands, während sich bei Personen mit niedrigerem Bildungsstand die Gesundheit verschlechterte.
Vielfältige Erwerbsverläufe älterer Menschen erfordern multidimensionale Erklärungen
Neben der Veranstaltungsreihe zur räumlichen Mobilität standen weitere Beiträge von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BiB auf dem Programm. So beschäftigte sich Dr. Andreas Mergenthaler mit den Erwerbsverläufen älterer Menschen im Alter zwischen 55 und 77 Jahren. Dazu untersuchte er auf der Grundlage des BiB-Surveys „Transitions and Old Age Potential (TOP)“ Profile von erwerbstätigen älteren Menschen bis hinein in das Ruhestandsalter und wie diese verteilt sind.
Er machte deutlich, dass verlängerte Erwerbstätigkeit durch eine vielfältige Auffächerung der Übergänge in den Ruhestand zwischen dem sechsten und achten Lebensjahrzehnt gekennzeichnet ist. „Unsere Befunde zeigen dabei mit Blick auf die wöchentliche Arbeitszeit ein Nebeneinander von Zu- und Abnahme, teilweiser Wiederaufnahme von Erwerbstätigkeit im Rentenalter, aber mit steigendem Lebensalter häufig auch den Rückzug von der Erwerbstätigkeit”, lautete sein Fazit. Die Ursachen dafür sind vielfältig. So spielen zum Beispiel das Geschlecht, das Alter, der Gesundheitszustand oder individuelle Präferenzen und Pläne für den Ruhestand eine Rolle. Diese Befunde weisen darauf hin, dass eindimensionale Erklärungsansätze für die unterschiedlichen Erwerbsverläufe älterer Menschen nicht ausreichen. Dr. Mergenthaler plädierte daher für multidimensionale Ansätze, die subjektive Evaluationen sowie Planungen und Einstellungen der Älteren zu Erwerbsbeteiligung in der zweiten Lebenshälfte mit einbeziehen.
Einstellungen von Müttern zur Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit
Die Frage, warum manche Mütter ihre Kinder lieber selbst betreuen und nicht in Vollzeit arbeiten wollen, untersuchte Kerstin Ruckdeschel. Misstrauen sie dem öffentlichen Betreuungsangebot oder stecken hinter diesem Verhalten kulturell unterfütterte Einstellungen, sogenannte Leitbilder? Mithilfe der Daten des Surveys “Familienleitbilder in Deutschland” machte Ruckdeschel deutlich, dass die Wahl des Arbeitszeitmodells von Müttern durchaus mit ihrer Meinung zur Kleinkindbetreuung korreliert: So arbeiten vor allem diejenigen Mütter mit einem ein- bis zweijährigen Kind in Vollzeit, die der Meinung sind, dass es kleinen Kindern nicht schadet, nicht ausschließlich von ihrer eigenen Mutter betreut zu werden und dass sie auf keinen Fall darunter leiden, wenn sie eine Ganztagesbetreuung besuchen. Hinzu kommt die Überzeugung der Mutter, dass eine Erwerbstätigkeit, die eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit vom Partner sichert, wichtig sei. “Zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es aber deutliche Unterschiede”, analysierte Ruckdeschel. In Westdeutschland ist Teilzeitarbeit wesentlich weiter verbreitet als in Ostdeutschland.
Das Projekt wurde als „work in progress“ vorgestellt, aber es lässt sich als erstes Fazit festhalten, dass westdeutsche Mütter Teilzeit arbeiten, um ihrem Ideal einer guten Mutter zu entsprechen, da sie der Meinung sind, dass ein kleines Kind am besten von der eigenen Mutter betreut wird und nicht, weil sie Ganztagesbetreuungseinrichtungen misstrauen würden.
Medizinische Hilfe bei Infertilität: Ja oder Nein?
Warum sich Menschen für oder gegen medizinische Unterstützung bei Infertilität entscheiden, ist nach wie vor unklar. Um etwas zur Klärung dieser Frage beizutragen, präsentierte Dr. Jasmin Passet-Wittig einen Überblick über bereits existierende Studien zu diesem Thema. „Die Studien kommen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Entsprechend unterscheiden sie sich sehr in der Konzeption und Methodik.“
Bei der Evaluation der Studien ergaben sich fünf Kategorien von Einflussfaktoren auf die Nutzung medizinischer Unterstützung: soziodemografische Variablen (dazu zählen etwa das Alter oder die ethnische Herkunft), sozioökonomische Faktoren (wie das Einkommen oder der sozioökonomische Status), die Reproduktionsvorgeschichte (zum Beispiel bereits vorhandene Kinder oder Vorerkrankungen), die jeweiligen persönlichen Einstellungen (etwa zu Kinderwünschen oder Reproduktionsmedizin) und psychologische Faktoren (wie Stressempfinden oder Depressionen). Die Auswertungen ergeben unter anderem, dass sich eine große Zahl der Studien mit sozioökonomischen Faktoren beschäftigt. Der Grund dafür wird darin gesehen, dass Kinderwunschbehandlungen meist teuer sind und entweder gar nicht oder nur unvollständig von der Krankenversicherung übernommen werden. Nach wie vor ist das Forschungsgebiet heterogen und fragmentiert, deshalb lautet ihre Forderung: „Wir benötigen bessere Daten sowie mehr Lebensverlaufsstudien und länderübergreifende Untersuchungen.“
Bessere Vereinbarkeit durch Homeoffice? Ja, aber…
Das Arbeiten im Homeoffice hat im Zuge der Corona-Pandemie in vielen Ländern deutlich zugenommen. Kann diese Entwicklung langfristig zu einer Erleichterung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen?
Zur Beantwortung dieser Frage analysierte Dr. Inga Laß zusammen mit Prof. Dr. Mark Wooden von der University of Melbourne Daten des Surveys „Household, Income and Labour Dynamics in Australia (HILDA)” für die Jahre 2004 bis 2019. „Die Befunde zeigen, dass das Arbeiten daheim den Konflikt zwischen Familie und Beruf nicht generell reduziert”, so Dr. Laß. Es zeigen sich aber geschlechtsspezifische Unterschiede, insofern als Frauen meist mehr vom Homeoffice profitieren als Männer. Darüber hinaus spielt der Umfang des Homeoffice eine Rolle. „Nur wenn der Großteil der Arbeitszeit daheim gearbeitet wird, kommt es zu einer Entspannung im Konflikt zwischen Job und Familie.“