Artikel im „Journal of Environmental Psychology“ | 12.10.2021Pendelbereitschaft und tatsächliches Pendelverhalten
Beeinflusst die individuelle Bereitschaft zum Fernpendeln das Pendelverhalten oder umgekehrt? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein aktueller Artikel von BiB-Wissenschaftlern.
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Für immer mehr Erwerbstätige ist das Pendeln langer Strecken zum und vom Arbeitsplatz mittlerweile Normalität. Verantwortlich dafür sind neben wachsenden Suburbanisierungstrends auch veränderte Arbeitsmarktstrukturen. Die Corona-Pandemie könnte diese Entwicklung weiter befördern. Damit stehen viele Erwerbstätige vor der Frage, wie sie ihren Weg zur Arbeit wählen. Erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für den Einstieg in das Fernpendeln bei Personen, wenn sie generell eine erhöhte Bereitschaft dafür haben? Oder führt im umgekehrten Fall das aktive Fernpendeln zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Veränderungen bei der Bereitschaft dazu?
Diesen Fragen gehen Heiko Rüger, Nico Stawarz und Thomas Skora vom BiB gemeinsam mit Brenton M. Wiernik von der University of South Florida in einem Beitrag für die Zeitschrift „Journal of Environmental Psychology“ auf der Basis von Daten des europäischen Surveys „Job Mobilities and Family Lives in Europe” nach.
Kausale Beziehung zwischen Pendelbereitschaft und -verhalten?
Bisherige Studien weisen auf einen positiven Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zum Pendeln und dem Pendelverhalten hin. So wurde unter anderem gezeigt, dass Personen, die große Distanzen zum Arbeitsort pendeln, auch eine größere Bereitschaft für das Fernpendeln aufweisen. Besonders von Bedeutung ist dieser Zusammenhang für die Raumplanung und Politik, da die Bereitschaft zum Pendeln häufig als ein wichtiger Indikator für das zukünftige Pendelverhalten der Bevölkerung angesehen wird. Dabei bleibt aber unklar, ob eine hohe Pendelbereitschaft auch einen direkten Einfluss auf die Entscheidung zum Pendeln hat oder ob das aktive Fernpendeln umgekehrt die Bereitschaft zum Pendeln beeinflusst. Um diesen Zusammenhang zu klären, werden im Beitrag Längsschnittdaten aus vier europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, Spanien und der Schweiz – verwendet und in Bezug zu theoretischen Erklärungsansätzen gesetzt, die eine Verbindung zwischen Pendelbereitschaft und -verhalten herstellen.
„Um die Richtung einer kausalen Beziehung zwischen Pendelbereitschaft und -verhalten zu klären, haben wir zwei alternative Sets von theoretischen Modellen verwendet“, erläutert Mitautor Dr. Heiko Rüger. So stellen Modelle rational handelnder Akteure die Pendelbereitschaft als kausalen Treiber für die Entscheidung zum Pendeln in den Mittelpunkt. Dagegen sehen Habituations- und Anpassungsmodelle die Pendelbereitschaft als ein Resultat der gegenwärtigen Pendelsituation. Dementsprechend könnten Erwerbstätige im Laufe der Zeit besser in der Lage sein, mit den negativen Auswirkungen des Pendelns umzugehen, zum Beispiel ein besseres Zeitmanagement entwickeln, um die verringerte Freizeit auszugleichen, oder sie könnten ihre Einstellungen aufgrund ihrer Erfahrungen ändern.
Beginn des Fernpendelns ist verbunden mit gestiegener Pendelbereitschaft
„Unsere Befunde stützen nur in geringem Maße die Annahme, dass sich aus der vorhandenen Bereitschaft zum Pendeln auf das tatsächliche Pendelverhalten schließen lässt und zwar egal, ob es um den Start oder das Ende des Fernpendelns geht“, analysiert Dr. Rüger. Demnach scheinen Personen oft bereit zu sein, von ihren eigenen Präferenzen abzuweichen, indem sie lange Pendelwege in Kauf nehmen, beispielsweise, um familiäre Bedürfnisse zu erfüllen oder wirtschaftliche Härten zu vermeiden. Dagegen stützen die Analysen die Annahme, dass der Start des Fernpendelns verbunden ist mit einer gestiegenen Pendelbereitschaft, während der Stopp des Fernpendelns zugleich auch mit einer rückläufigen Bereitschaft zum Pendeln verbunden ist.
Pendelbereitschaft verändert sich im Zeitverlauf
Insgesamt wird deutlich, dass die Pendelbereitschaft nicht als stabile Eigenschaft einer Person angesehen werden kann, sondern in vielerlei Weise im Zeitverlauf Veränderungen unterworfen ist und in engem Zusammenhang mit dem aktuellen Pendelverhalten gesehen werden muss. „Die Bereitschaft zum Pendeln kann insbesondere als eine Wirkung des Pendelverhaltens verstanden werden”, betont Dr. Rüger.
Für die Raumplanung und Politik könnte dies unter anderem bedeuten, bei der Dezentralisierung von städtischen Einrichtungen, Dienstleistungen und Zielen vorsichtiger zu sein. Denn selbst wenn sich dadurch die Reisezeit und der Stress für die Pendelnden erheblich erhöhen, werden sie sich wahrscheinlich daran gewöhnen, so dass der Dezentralisierungsprozess nur schwer wieder rückgängig gemacht werden kann.
Rüger, Heiko; Stawarz, Nico; Skora, Thomas; Wiernik, Brenton M.(2021): Longitudinal relationship between long-distance commuting willingness and behavior: Evidence from European data. In: Journal of Environmental Psychology 77.