Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Forschungsprojekt • 21.11.2022Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland

Bisher ist wenig darüber bekannt, wer aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist. Wie sah das bisherige Leben der Geflüchteten aus, welches sie aufgrund des Krieges aufgeben mussten? Welche Perspektiven sehen sie für ihre Zukunft? Zur Beantwortung dieser Fragen hat das BiB zusammen mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dem Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie dem Sozio-oekonomischen Panel am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin ein neues Forschungsprojekt gestartet. Im Interview geben Prof. Dr. C. Katharina Spieß und Dr. Andreas Ette, die beiden verantwortlichen Projektleitenden am BiB, Einblicke in Ziele und Methodik des Projekts.

Welchen Erkenntnisgewinn erhoffen Sie sich von den Befunden des neuen Projekts?

Katharina Spieß: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu einer der größten Flüchtlingsbewegungen Europas seit Mitte des 20. Jahrhunderts geführt. Angesichts dieses aktuellen Migrationsgeschehens benötigen wir eine belastbare Datenbasis über die Menschen, die nach Deutschland kommen. Ein Grund hierfür ist, dass sich Erkenntnisse aus den Analysen früher Fluchtbewegungen nur teilweise auf die aktuelle Situation übertragen lassen. Wir brauchen Daten über die Fluchtumstände der Menschen, ihre Motive und Zukunftspläne, um ihnen gute Lebensbedingungen und Schutz in Deutschland zu ermöglichen. Gleichzeitig benötigt die Politik fundierte Daten, um den Geflüchteten Perspektiven für eine Integration in Deutschland zu ermöglichen, aber auch, um die Ukraine im Fall der Rückkehr dieser Menschen zu unterstützen.

Welche Merkmale der Geflüchteten sollen erhoben werden?

Andreas Ette: Relevant sind Daten aus vielen verschiedenen Lebensbereichen der Menschen. Um den Geflüchteten etwa Perspektiven auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu schaffen, benötigen wir beispielsweise Informationen zu ihren Bildungs- und Berufsqualifikationen sowie zu vorhandenen Sprachkenntnissen. Informationen über den sozialen und ökonomischen Hintergrund der Geflüchteten geben Einblick in bestehende Hilfe- und Unterstützungsbedarfe. Wir fragen ebenso nach bestehenden Kontakten und Netzwerken zu bereits vor dem Krieg in Deutschland lebenden Menschen. Denn private Kontakte sind für Geflüchtete wichtige Informationsquellen und stellen oftmals Ressourcen für ein Ankommen in Deutschland zur Verfügung.

Angesichts der großen Zahl von Frauen, Kindern und Jugendlichen unter den Geflüchteten spielen aber auch die Familienbeziehungen eine wichtige Rolle. Viele Familien wurden durch den Krieg getrennt. Gerade die Kinder und Jugendlichen benötigen Unterstützung, um weiterhin in einer Kita gefördert zu werden, schulische oder berufliche Ausbildungen fortsetzen zu können sowie Perspektiven für den weiteren Lebenslauf zu entwickeln.

Die verschiedenen Forschungsperspektiven der vier beteiligten Partnerorganisationen ergänzen sich sehr gut. Während die einen beispielsweise viel Expertise zur Arbeitsmarktbeteiligung von Geflüchteten oder den Auswirkungen von Flucht auf die gesundheitliche Situation einbringen, ergänzt das BiB durch seine Expertise zu Familienbeziehungen, Bildung und der Dynamik internationaler Migrationsprozesse im Kontext von Flucht.

Wie werden die Daten erhoben und wie groß ist die befragte Gruppe?

Andreas Ette: Die Befragung basiert auf einer zufallsbasierten Stichprobe. Dafür wurden in einem ersten Schritt über das Ausländerzentralregister circa 100 Gemeinden in Deutschland zufällig ausgewählt. In einem zweiten Schritt erfolgte auf Grundlage der Daten der Einwohnermelderegister die zufällige Ziehung einer Stichprobe von Geflüchteten im Alter zwischen 18 und 70 Jahren. Die Personen wurden anschließend mit Bitte um Teilnahme an der Befragung postalisch kontaktiert. Die Befragung selbst führt das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) mittels eines Online-Fragebogens durch. Alternativ hat aber jede kontaktierte Person auch die Möglichkeit, einen Papierfragebogen auszufüllen.

Die erste Befragungswelle findet seit August statt und soll im Oktober abgeschlossen werden. Es konnten bis Ende September bereits über 10.000 Ukrainerinnen und Ukrainer befragt werden, welche sich fast alle bereiterklärt haben, an weiteren Befragungswellen teilzunehmen. Die gleichen Personen sollen dann bereits ab Januar 2023 erneut befragt werden, um die weitere Entwicklung der persönlichen Lebensumstände besser verstehen zu können.

Bei den Zahlen zu den Geflüchteten bestanden von Anfang an gewisse Unsicherheiten. Zwischenzeitlich gibt es aber Berichte, wonach die nach Deutschland Geflohenen relativ schnell wieder in die Ukraine zurückgereist sind. Für Wiederholungsbefragungen ständen diese Personen dann möglicherweise nicht mehr zur Verfügung. Wie haben Sie dieses Problem methodisch gelöst?

Andreas Ette: Die Rückkehr der Geflüchteten ist in erster Linie kein methodisches Problem. Vielmehr ist es die Entscheidung jeder einzelnen Person, genau dort zu leben, wo für einen selbst als auch die weiteren Familienangehörigen die besten Lebenschancen bestehen. Deutschland bietet diesen Menschen Schutz und die mögliche Rückkehr von Geflüchteten ist für die Zukunft der Ukraine von zentraler Bedeutung.

In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn lagen in der Tat nur wenige belastbare Daten über die Geflüchteten vor. Grund ist, dass sich die Europäischen Mitgliedsstaaten erstmals dazu entschlossen haben, die Aufnahme der Geflüchteten über eine europäische Richtlinie zu organisieren, welche bereits im Jahr 2001 genau für solche Fälle eingeführt wurde. Diese Richtlinie hat den Schutz und die Aufnahme der Ukrainerinnen und Ukrainer in den Mitgliedsstaaten deutlich vereinfacht, aber zu Beginn zu einigen Unsicherheiten bei der Registrierung geführt. Die Rückkehr der Geflüchteten in die Ukraine wird bisher vermutlich überschätzt. Wir stellen bei unserer Befragung fest, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil unserer postalischen Anschreiben nicht zugestellt werden kann. Die in Deutschland registrierten Ukrainerinnen und Ukrainer leben somit zum überwiegenden Teil noch immer hier.

Die Untersuchung einer zukünftigen Rückkehr wird eine wichtige Forschungsfrage des Projektes darstellen. Da es sich größtenteils um eine Onlinebefragung handelt, spielt der Wohnort für die Befragung keine wesentliche Rolle. Die seit August befragten Geflüchteten können somit auch nach einer Rückkehr in die Ukraine an den weiteren Befragungswellen teilnehmen.

Wann erwarten Sie erste Befunde der Befragung?

Katharina Spieß: Die Studie knüpft an die seit 2016 durchgeführte „IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten“ sowie das am BiB angesiedelte Familiendemografische Panel FReDA an. Wir greifen damit auf bestehende Dateninfrastrukturen zurück, so dass wir gegenwärtig davon ausgehen, dass wir erste Befunde noch Ende des Jahres 2022 vorstellen können (Anm. der Redaktion: Die ersten Ergebnisse werden voraussichtlich Anfang kommenden Jahres im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt). Das Projekt profitierte von der guten Kooperation zwischen den vier Partnern als auch der hervorragenden Zusammenarbeit aller Beteiligten am BiB. Zukünftig werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Befragungsdaten über die Forschungsdatenzentren der beteiligten Institutionen abrufen können.

Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe (Heft 5) von Bevölkerungsforschung Aktuell erstmals erschienen.

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